Das
Wertvollste...
Es war schon eine
Weile her, seit René den alten Mann zuletzt getroffen hatte. Das Studium,
Frauen, die Karriere - René war aus seinem Heimatort weggezogen und lebte
heute am anderen Ende der Republik. René hatte wenig Zeit, um über
Vergangenes nachzusinnen, manchmal fehlte ihm sogar die Zeit für seine Frau
und seinen eigenen Sohn. Er arbeitete an seiner Zukunft und nichts konnte
ihn davon abbringen.
Eines Tages erhielt er einen Anruf seiner Mutter. Sie erzählte ihm, dass
Herr Belser am Abend zuvor gestorben war, und dass die Beisetzung am
darauffolgenden Mittwoch stattfinden sollte. Erinnerungen tauchten auf und
René saß still da, und erinnerte sich an seine Kindheit.
"Hast du gehört, was ich dir gesagt habe?" fragte seine Mutter.
"Aber ja, sicher", antwortete René, "ich habe lange nicht mehr an ihn
gedacht - um ehrlich zu sein: ich dachte, er sei schon seit einigen Jahren
tot."
"Nun, aber er hat dich nicht vergessen. Immer, wenn ich ihn sah, fragte er
nach dir. Er schwärmte von den vielen Stunden, die du damals bei ihm drüben
verbracht hast, 'auf seiner Seite des Zauns', wie er es nannte", fuhr seine
Mutter fort.
"Das alte Haus, in dem er lebte, war einfach genial", sagte René.
"Weißt du, als dein Vater starb, kam Herr Belser vorbei und meinte, es sei
sehr wichtig, dass es auch einen männlichen Einfluss in deinem Leben geben
sollte," sagte Renés Mutter.
"Ja, er hat mir viel beigebracht. Ohne ihn hätte ich meinen heutigen Beruf
nie erlernt. Er hat sehr viel Zeit damit zugebracht, mir alles zu
vermitteln, was er für wichtig hielt. Ich werde zur Beerdigung kommen."
Obwohl er sehr unter Termindruck stand, hielt René sein Versprechen. Er nahm
den nächsten Flug in seine Heimatstadt. Die Beisetzung des Herrn Belser war
sehr schlicht. Er hatte keine eigenen Kinder und die meisten seiner
Verwandten waren längst verstorben.
Am Abend vor seinem Rückflug besuchte René mit seiner Mutter noch
einmal das alte Haus, in dem Herr Belser all die Jahre gelebt hatte. Er
blieb auf der Türschwelle stehen. Es war wie eine Zeitreise, als öffnete
sich eine andere Dimension. Das Haus war genau so, wie René es in Erinnerung
hatte. Jeder Schritt, den er darin machte, weckte längst vergessene
Erinnerungen. Jedes Bild, jedes Möbelstück erzählte Geschichten. René hielt
abrupt inne.
"Was ist los?" fragte seine Mutter.
"Die kleine Schatulle ist weg!" antwortete René.
"Welche Schatulle?"
"Es gab eine kleine goldene Schatulle, die er immer verschlossen hielt - sie
stand immer hier auf dem Schreibtisch. Ich habe ihn bestimmt tausend Mal
gefragt, was drin ist. Aber er sagte nur immer: das, was mir am wertvollsten
ist."
Die Schatulle war fort. Alles andere im Haus war genau so, wie René es in
Erinnerung hatte. Alles bis auf die Schatulle. René vermutete, dass ein
Familienangehöriger diese Schatulle mitgenommen haben musste.
Traurig sagte er: "Nun werde ich niemals erfahren, was für ihn am
wertvollsten war."
René war müde, also kehrte er mit seiner Mutter zurück nach Hause und flog
am nächsten Tag zurück in seine Wahlheimat.
Etwa zwei Wochen nach Herrn Belsers Tod fand René einen
Benachrichtigungschein in seinem Briefkasten. Der Postbote hatte ihn nicht
angetroffen und das Päckchen wieder mitgenommen. Als René ganz früh am
nächsten Morgen zum Postamt fuhr, überreichte ihm der Schalterbeamte ein
Päckchen, das so aussah, als sei es hundert Jahre unterwegs gewesen. Die
Handschrift des Absenders war kaum zu entziffern, doch schließlich erkannte
René die Absenderanschrift: Harald Belser.
René setzte
sich ins Auto und atmete tief durch, bevor er das Päckchen öffnete. Zum
Vorschein kamen die goldene Schatulle und ein Briefkuvert. Renés Hände
zitterten, als er die Notiz las: "Bitte übergeben Sie nach meinem Tod diese
Schatulle mit Inhalt an René Benoit. Sie enthält das, was mir in meinem
Leben am wichtigsten war." Ein kleiner goldener Schlüssel klebte auf dem
Brief. René standen die Tränen in den Augen und sein Herz raste, als er den
Schlüssel nahm, und die Schatulle öffnete. Sie enthielt eine wunderschöne
goldene Taschenuhr.
Renés Finger
glitten über das wunderbar gearbeitete Gehäuse. Der Uhrdeckel sprang auf.
Darin standen die eingravierten Worte: "René, vielen Dank für deine Zeit! -
Harald Belser"
"Meine Zeit war es, die ihm am wertvollsten war!" René hielt die Uhr eine
ganze Weile in der Hand, bevor er zum Handy griff und im Büro anrief. Er
sagte alle Termine für die kommenden beiden Tage ab.
"Aber warum denn das?" fragte seine Sekretärin irritiert.
"Ich möchte ein wenig Zeit mit meinem Sohn verbringen", antwortete René.
"Ach, und übrigens: vielen Dank für Ihre Zeit."
Es ist nicht die Anzahl an Jahren, die den Wert unseres Lebens ausmachen,
sondern die Qualität und Intensität, mit der wir es leben.
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